Jericho und seine Siedlungsschichten
Beitrag von Christian Schaller
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Die Stadt Jericho liegt im Osten der Pal?stinensischen Autonomiegebiete auf dem Gebiet des Westjordanlandes und verfügt heute über 22.000 Einwohner. Die Grenze zu Jordanien liegt etwa sieben Kilometer im Osten, das Tote Meer befindet sich etwa zehn Kilometer südlich der Siedlung. Durch ihre Lage im Jordangraben befindet sich die Stadtmitte rund 250 Meter unter dem Meeresspiegel, was Jericho zur tiefgelegensten Stadt der Welt macht. Ihr Titel als sogenannte ?Palmenstadt“ l?sst sich mit ihrer Lage an einer der wasserreichsten Gro?oasen des Nahen Ostens verbinden. Jericho wurde im 10. Jahrtausend v. Chr. gegründet und wird heute gemeinhin als eine der ?ltesten bekannten St?dte der Erde gedeutet. Arch?ologischen Erkenntnissen zufolge ist Jericho in seiner langen Geschichte mehrmals zu einer Ruinenst?tte verfallen und nach l?ngeren Unterbrechungen neu aufgebaut worden. Dadurch lassen sich im Areal mehrere Siedlungsschichten voneinander trennen. Grunds?tzlich kann man zwischen der ?zehntausendj?hrigen“ Stadt Tel Yeriho (heute die arch?ologische Ausgrabungsst?tte Tell es-Sultan), der r?misch-hellenistischen Stadt ab der Zeit Herodes des Gro?en bei den Tulul Abu el-Alayik und der arabischen Neustadt Eriha inmitten ausgedehnter Obsthainpflanzungen unterscheiden. Drei Kilometer süd?stlich Jerichos liegt der Stadtteil Aqabat, der nach 1967 aus einem pal?stinensischen Flüchtlingslager hervorgegangen war.
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Die wasserreiche Quelle Ain es-Sultan (Elischaquelle) zog bereits im Protoneolithikum (ca. 10.000 v. Chr.) erste Siedler an, die dort Viehzucht und Landwirtschaft betrieben. Am Nordende des Tell es-Sultan, zwei Kilometer nordwestlich des heutigen Stadtzentrums, entdeckten Arch?ologen ein 6,5 auf 3,5 Meter gro?es Geb?ude aus dieser Zeit. In der Arch?ologie bezeichnet das arabische Wort Tell (Plural: Tulul) eine Erhebung, die durch wiederholte Besiedlung entstand. Somit besteht die heutige Ausgrabungsst?tte der alten Stadt Tel Yeriho aus mehreren übereinanderliegenden, teilweise ineinander übergehenden Siedlungsschichten. Der eif?rmige Hügel mit einer Fl?che von rund 4,6 Hektar misst 307 auf 161 Meter und ist circa 20 Meter hoch. Im 19. und 20. Jahrhundert wurde das Areal systematisch von gr??tenteils europ?ischen Arch?ologen ergraben.
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Abb. 1: Blick vom Tel in Richtung des modernen Jericho.
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Die Bedeutung der St?tte ergibt sich daraus, dass dort die Anf?nge der Urbanisierung im Rahmen der neolithischen Revolution erforscht werden k?nnen. Besonders die bis zu 13.000 Jahre zurückreichenden arch?ologischen Befunde des Neolithikums sind von weltweiter Bedeutung. Der sogenannte Turm von Jericho aus unbearbeiteten Steinen, mit einer H?he von 8,25 Metern und einem Basisdurchmesser von 8 Metern gilt als der ?lteste Turmbau der Welt mit der ?ltesten bekannten Treppe im Inneren (22 Stufen). Er datiert in die Zeit zwischen 8300 und 7800 v. Chr. und unterliegt verschiedenen Interpretationen (Befestigungsanlage, Stützma?nahme für die umgebende Mauer, Schutz vor Fluten und Schlammlawinen, Versammlungs- und Kultraum).
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Abb. 2: ?ltester erhaltener Turmbau (ca. 8300–7800 v. Chr.).
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Bereits in dieser Zeit l?sst sich in Jericho ein differenziertes Gemeinwesen mit einer gut funktionierenden kommunalen Organisation feststellen. Die Einwohnerzahl wird auf bis zu 3.000 Menschen gesch?tzt. Jericho kontrollierte zudem eine der wenigen festen Handelsrouten von Westen Richtung Osten und über den Fluss Jordan.
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Nach zahlreichen Zerst?rungshorizonten und Migrationsbewegungen über die Jahrhunderte lassen sich um 1900 v. Chr. die Kanaaniter in Jericho nachweisen. Sie sind die ?ltesten bekannten Einwohner des syrisch-pal?stinensischen Gebietes, des biblischen Landes Kanaan, vorwiegend vor dem Auftreten der Israeliten im 13. Jahrhundert v. Chr. Sie sind ethnisch weitgehend mit den Ph?niziern identisch. Die im 13. Jahrhundert v. Chr. einwandernden Israeliten unter ihrem Anführer Josua fanden wohl kaum die in der Bibel beschriebene ?m?chtige K?nigsstadt“ vor, deren Mauern sie mit Posaunen und Schreien zum Einsturz bringen mussten, sondern viel eher ein mauerloses Dorf. Jericho geh?rte fortan zum Stammesgebiet der Benjaminiter, einem der zw?lf St?mme Israels.? Im neunten Jahrhundert v. Chr, baute Hiel, ein Beamter des K?nigs Ahab von Israel, die Stadt wieder auf, wie einige Geb?udereste belegen. In dieser Zeit besuchte auch der biblische Prophet Elija mit seinem Schüler Elischa die Stadt. Nach dem Babylonischen Exil kehrten im Jahr 538 v. Chr. 345 Juden nach Jericho zurück – es ist unklar, ob sie sich noch auf dem Tell es-Sultan oder bereits auf dem nahen Wadi el-Kelt (Wadi = Tal bzw. Flusslauf) niederlie?en. Im zweiten Jahrhundert v. Chr. befestigten die Seleukiden die Stadt, die einige Jahre darauf von den Makkab?ern erobert wurde.
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Das angenehme Winterklima bei Jericho veranlasste am Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. die hasmon?ischen K?nige zum Bau von Winterpal?sten am Ausgang des Wadi. Die Oase bot fruchtbaren Boden und reichlich Quellwasser zum Anlegen von G?rten, Feldern und für den Dattelanbau. Zudem lag sie nur eine Tagesreise von Jerusalem entfernt. Dieser unter K?nig Alexander Jann?us errichtete Hasmon?erpalast n?rdlich des Wadi hatte eine Ausdehnung von 50 auf 50 Meter.
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K?nig Herodes begann um 35 v. Chr. einen Neubau am gegenüberliegenden Ufer des Wadi. Dieser 86 Meter lange und 46 Meter breite Palast verfügte über einen Hof, Empfangssaal, Wohnr?ume und B?der. Einige Jahre darauf gab Herodes einen noch gr??eren und pr?chtigeren Palast über dem Nordufer des Wadi in Auftrag. Der 85 auf 35 Meter gro?e Geb?udekomplex enthielt ebenfalls einen marmornen Empfangssaal, eine r?mische Badeanlage und Wohnr?ume. Er war mit qualit?tsvollen Mosaiken, Statuen, S?ulen und netzartig gefügtem Mauerwerk ausgestattet. Vom Palast aus führte ein schnurgerader Weg zu einer Brücke, die den Wadi überquerte, und über eine 50 Meter lange, auf Pfeilern ruhende Treppe zu einer Villa auf der Spitze des benachbarten Hügels hinaufführte. Westlich des Verbindungsweges lag eine über 100 Meter lange, von S?uleng?ngen eingefasste Gartenanlage. ?stlich des Verbindungsweges lag ein Teich, der ebenso wie die riesigen Obstplantagen und Palmenw?lder – die angeblich eine Fl?che von über 45 Quadratkilometern einnahmen – über fünf Aqu?dukte versorgt wurde, die Herodes aus dem Gebirge heranführte und in einem 175 auf 145 Meter gro?en Verteilerbecken vereinigte.
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Jericho avancierte zu Herodes Lieblingsaufenthaltsort, den er über Jahre hinweg zu einem prachtvollen, r?misch-hellenistischen Erholungsort ausbaute und in dem er 4 v. Chr. auch verstarb. Kurz vor seinem Tod hatte der K?nig die angesehensten jüdischen M?nner in der Rennbahn in Jericho einschlie?en lassen. Sein Plan war, sie bei seinem Tod ermorden zu lassen, damit die Juden bei seinem Begr?bnis weinen würden. Seine Schwester Salome und ihr Mann Alexas vereitelten jedoch den Plan und befreiten die M?nner. Herodes Sohn Archelaos erweiterte die Stadt nach Osten und schuf ein gro?es Bew?sserungssystem für Pflanzungen, Palmenw?lder und Balsamharzg?rten.
Der Bibel zufolge bekehrte Jesus von Nazareth in Jericho den Zollp?chter Zach?us und heilte den Blinden Bartim?us. Gegen Ende des jüdischen Krieges wurde Jericho verwüstet und verlor seine Bedeutung. Die überlebenden Bewohner errichteten einen neuen Stadtteil, der sich in Richtung des heutigen Eriha entlang des Flusses ausdehnte. In byzantinischer Zeit war Jericho Bischofssitz, mehrere christliche Kirchen konnten lokalisiert werden. Unter den Umayyaden wurde Jericho eine Bezirkshauptstadt. Die Stadt handelte bis in die Zeit der Kreuzzüge mit Indigo und vor allem Zucker.
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Unter den Mamelucken und Osmanen war Jericho weitgehend bedeutungslos. Ein Gro?brand zerst?rte das Dorf im Jahr 1871. Zwei Jahre sp?ter versteigerte die türkische Regierung das Land, wobei aber eine jüdische Besiedlung der Oase vermieden werden wollte. In den 1920er Jahren verteilte die britische Mandatsverwaltung das Staatsland an Araber, die es an Juden weiterverkauften, welche jedoch durch die arabischen Aufst?nde 1936 erneut zum Wegzug gen?tigt wurden. Nach dem Bau der Autobahnstra?e nach Jerusalem errichteten wohlhabende Araber luxuri?se Winterwohnsitze. 1948 wurde die Stadt Jordanien zugeschlagen und nahm viele muslimische Flüchtlinge aus dem neuen Staat Israel auf. Im Jahr 1964 z?hlte die Stadt 13.000 Einwohner, weitere 57.000 lebten in den Lagern der Umgebung, wie beispielsweise Aqabat. Nach der Besetzung des Westjordanlandes w?hrend des Sechstagekrieges 1967 durch die Israelis schmolz die Einwohnerzahl auf 7.000. Jericho war die erste Stadt, die Israel 1994 nach den Vertr?gen von Oslo an die Pal?stinensische Autonomiebeh?rde übergab. Die Hauptstra?e Nr. 90 in den Norden wurde nach Osten verlegt, die Ausfahrt dorthin geschlossen. Damit wurde Jericho zur Grenzstadt. Die Vorabfertigung von Bewohnern der Autonomiegebiete, die über die Allenby-Brücke nach Jordanien reisen, findet hier statt. Auch nach dem Abkommen von Scharm El-Scheich vom Februar 2005, das offiziell die Zweite Intifada beendete, wurde Jericho am 16. M?rz 2005 als erste Stadt wieder pal?stinensischer Kontrolle übergeben. Die israelische Armee ist aber weiterhin an der strategisch wichtigen Stra?enkreuzung vor der Stadt mit einem Checkpoint stationiert.
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Literaturverzeichnis:
- Finkelstein, Israel / Silberman, Neil Asher: Keine Posaunen vor Jericho. Die arch?ologische Wahrheit über die Bibel. Beck. München 2015.
- Fürst, Heinrich / Geiger, Gregor (Hg.): Im Land des Herrn. Ein franziskanischer Pilger- und Reiseführer für das Heilige Land. Stuttgart 1980.
- Gorys, Erhard / Gorys, Andrea: Heiliges Land. Ein 10000 Jahre altes Kulturland zwischen Mittelmeer, Rotem Meer und Jordan (= DuMont Kunst-Reiseführer). Ostfildern 2009.
- Nigro, Lorenzo: Archaeological heritage in the Jericho Oasis. A systematic catalogue of archaeological sites for the sake of their protection and cultural valorisation (= Studies on the archaeology of Palestine & Transjordan, Bd. 7). Rom 2011.
- Ruby, Robert: Jericho. Dreams, ruins, phantoms. New York 1995.
- Sellin, Ernst / Watzinger, Carl: Jericho. Die Ergebnisse der Ausgrabungen (= Wissenschaftliche Ver?ffentlichung der Deutschen Orient-Gesellschaft, Bd. 22). Osnabrück 1973.
- Taha, Hamdan / Qleibo, Ali:?Jericho, a Living History: Ten Thousand Years of Civilization.Jerusalem 2010.
- Vieweger, Dieter: Arch?ologie der biblischen Welt. Gütersloh 2012.
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Abbildungsverzeichnis:
- Abbildung 1: Privatfoto Christian Schaller, September 2018.
- Abbildung 2: Privatfoto Christian Schaller, September 2018.